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Abgeordnete von déi Lénk im TTIP-Leseraum

Die kritischen Töne, die zuletzt von mehreren europäischen Spitzenpolitikern gegenüber den TTIP-Verhandlungen mit den USA geäußert wurden, mag man als Versuch werten, den Druck auf die amerikanischen Unterhändler zu erhöhen. Schlussendlich geht es aber vor allem darum, das Abkommen CETA mit Kanada zu retten.

Bei Verhandlungen über Freihandelsabkommen wird von den Verantwortlichen traditionell ein auffälliges Maß an Zweckoptimismus verbreitet. Liest man die knappen Berichte über die letzten TTIP-Gesprächsrunden, die auf der Internetseite der EU-Kommission frei zugänglich sind, erhält man den Eindruck, es gehe nur mehr um Detailfragen.

Ein ganz anderes Bild drängt sich jedoch auf, wenn man einen Blick in die klassifizierten, nicht für die Öffentlichkeit bestimmten Dokumente wirft, die im sogenannten Leseraum im luxemburgischen Außenministerium ausliegen. Dort kann man als Abgeordneter unter äußerst widrigen Arbeitsbedingungen nachlesen, dass die Sorgen der TTIP-Kritiker äußerst berechtigt sind, aber auch dass die Verhandlungen mittlerweile auf breiter Linie feststecken.

Zwar hat man sich über die Struktur des Abkommens geeinigt und die Zahl der Kapitel festgelegt, in fast allen Bereichen gibt es jedoch substantielle Meinungsverschiedenheiten zwischen der EU und den USA. Besonders starr ist die Front bei dem öffentlichen Beschaffungswesen, dem Investmentschutz, den nicht-tarifären Hemmnissen, dem Schutz geistigen Eigentums und den technischen Handelsbarrieren. Nur im Bereich der regulatorischen Zusammenarbeit gibt es ein vorläufiges Ergebnis, weil die Europäer ihre Ambitionen in diesem Bereich stark herab gesetzt hat.

Die neoliberalen Dogmatiker sitzen in Brüssel

In den Festtagsreden stellen sich US-Politiker gerne als ultimative Verfechter des freien Marktes dar, in der Realität gehen sie jedoch weitaus pragmatischer vor. Umgekehrt beschwören EU-Politiker gerne die „europäischen Werte“ oder das „europäische Sozialmodell“, in der Realität verteidigen sie jedoch vorrangig die Interessen der Multis und der Großindustrie. Wer also meint, der Karren stecke fest, weil die EU-Kommission tapfer die schwindenden Errungenschaften der „sozialen Marktwirtschaft“ gegen den „amerikanischen Turbokapitalismus“ verteidigt, der irrt gewaltig. Ganz im Gegenteil, die Verhandlungen stocken in vielen Sektoren, weil die US-Amerikaner die blinde Liberalisierungs- und Deregulierungswut der EU-Kommission nicht mittragen wollen.

Beispielsweise beim öffentlichen Beschaffungswesen: Wenn eine Administration einen öffentlichen Auftrag ausschreibt, soll sie laut TTIP-Abkommen gezwungen werden, Angebote von Firmen der anderen Seite gleichberechtigt zu behandeln. US-Unternehmen können sich dann bei Aufträgen von europäischen Behörden bewerben und europäische Unternehmen bei Aufträgen von US-Behörden. Die EU will in diesem Kapitel eine sogenannte Standstill-Klausel einfügen, die den Vertragsparteien bis in alle Ewigkeit untersagt, die Kriterien bei öffentlichen Aufträgen restriktiver oder strenger zu gestalten. Die US-Seite will darauf jedoch nicht eingehen. Sie will sich auch in Zukunft die Möglichkeit offen lassen, bei Bedarf gesetzgeberisch einzugreifen.

So blickt man sehr schnell durch, worum es eigentlich geht: Sowohl die USA als auch die EU versuchen die Interessen ihrer jeweiligen Multis oder der gewichtigen Wirtschaftszweige durchzusetzen. Beispiel: Während die USA versuchen, neue Absatzmärkte für ihre in hochintensiver Landwirtschaft geschaffenen Produkte zu erringen, wollen die Europäer die US-amerikanischen Regeln beim öffentlichen Beschaffungswesen (“marchés publics“) durchbrechen. Weder die EU- noch die US-Bürger werden etwas davon haben.

Abschluss unter Obama unmöglich

Der Stand der Verhandlungen, so wie er aus den klassifizierten Dokumenten hervorgeht, lässt einen Abschluss unter der Obama-Administration als äußerst unwahrscheinlich erscheinen. Und die potentiellen Nachfolger Clinton oder Trump stehen dem uneingeschränkten Freihandel weitaus kritischer gegenüber. Es ist also kaum verwunderlich, dass europäische Spitzenpolitiker mittlerweile kritische Töne gegen TTIP anschlagen: Da man das Abkommen in absehbarer Zeit nicht gegen die öffentliche Meinung durchzupeitschen braucht, kann man zwischenzeitlich Verständnis für die Bedenken der Bürgerinnen und Bürger heucheln.

Gleichzeitig ist es auch ein Versuch, das bereits ausgehandelte Abkommen CETA mit Kanada zu retten. Dieses Abkommen, das genau jenes Maß an radikaler Liberalisierung und Deregulierung enthält, das man sich in Brüssel auch für TTIP wünscht, wird von weiten Teilen der europäischen Bevölkerung gleichermaßen abgelehnt. Indem man die TTIP-Verhandlungen öffentlich kritisiert und CETA weiterhin die Treue hält, will man die Botschaft übermitteln, dass beide Verträge völlig unterschiedlich seien: CETA sei ein „gutes“ Abkommen, das jetzt zügig umgesetzt werden muss, während TTIP zu Recht kritisiert werden darf.

Auf diese plumpe Rhetorik, die auch luxemburgische Politiker gerne verbreiten, wird die europäische Zivilgesellschaft jedoch kaum hereinfallen. Beide Abkommen zielen auf das gleiche Ergebnis ab, nämlich die ultraliberale Weltordnung unwiderruflich in Stein zu meißeln. Dementsprechend gilt es jetzt, den Widerstand vor allem auf CETA zu konzentrieren.

Marc Baum & David Wagner